„Keine Atempause, Geschichte wird gemacht! Es geht voran …“
In den vergangenen Jahren hat sich der Fokus linksradikaler Arbeit in Deutschland bedeutend verschoben. Aus einer Fülle kleiner, selbstorganisierter und weitgehend autonom agierender Gruppen sind über die Jahre diverse Großgruppen entstanden. Dieser Prozess läutete eine stetig fortschreitende Resignation vieler sich organisierender Individuen und Klein- Gruppen bis hin zur teilweisen Stagnation der linksradikalen und antifaschistischen Bewegung ein. Zunehmend zeigt sich, dass ein Gruppen- Verständnis nach dem Motto „Quantität statt Qualität“ langfristig fehlschlägt. Die Organisation im größtmöglichen Rahmen zum Preis von schlichtweg nicht geführten, aber elementar wichtigen Diskussionen schlägt mit großer Sicherheit fehl. Die nicht geführten Gruppen- internen Diskurse sind ein Grund für die von einigen Seiten heraufbeschworene ‚Krise‘, in der wir uns zweifelsohne befinden. Eine kritische Betrachtung aktueller ‚Antifa‘- Arbeit ist somit unumgänglich und das nicht nur aufgrund dieser Entwicklung. Wir wollen natürlich nicht die komplette Arbeit der letzten Jahre belächeln und überheblich behaupten, dass bis heute nichts erreicht wurde. Jedoch gehen wir davon aus, dass die Politik einzelner Berliner Gruppen von vornherein zum Scheitern verurteilt war …
Der politische Schwerpunkt vieler im linksradikalen Spektrum angesiedelten Gruppen in Deutschland und besonders in Berlin hat sich zunehmend vom antifaschistischen Kampf im klassischen Sinne entfernt. Dies wird nicht nur in der Um-und Neubenennung vieler Gruppen deutlich, bei denen der Begriff „antifaschistisch“ zunehmend zu verschwinden scheint. Doch dieser Prozess ignoriert die vorherrschenden Zustände und könnte sich daher als fataler Fehler herausstellen: selten war rassistische Propaganda in Deutschland so anschlussfähig, wie in diesen Monaten, selten die Anzahl fremdenfeindlicher An-und Übergriffe so hoch. Antifa- Arbeit ist notwendiger als je zuvor, das wird besonders an Orten wie Freital in Sachsen, aber auch in Berliner Randbezirken wie Buch, Marzahn oder Köpenick immer deutlicher, wo Geflüchtete um ihr Leben bangen müssen, weil sich der deutsche Mob getreu seiner widerwärtigen Tradition einmal mehr versammelt und zu Hetzen beginnt. Die Aufgabe einer antifaschistischen Gegenkultur muss es sein, an eben jenen Orten Akzente zu setzen, also den Nazis die Stirn zu bieten, wo auch immer sie sich breit machen. Die Geschichte unserer Bewegung lehrt uns, dass ein konsequenter Antifaschismus örtlich flexibel, kompromisslos und dadurch gegebenenfalls militant sein muss, eben das war die Berliner Antifa- Politik der letzten Jahre schlichtweg nicht. An vielen Stellen war sie nicht mehr wahrnehmbar, erschreckend harmlos und in ihren kooperativen Verhaltensweisen teilweise gar lächerlich. Sie fokussierte sich bequem auf den innerstädtischen Bereich und vergaß, teils gewollt, teils ungewollt, bereits bestehende Strukturen in den Randbezirken zu unterstützen. Das muss sich ändern, sonst wird antifaschistische Politik, wie momentan, keinerlei Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen haben.
Ein Fehlglaube vieler vermeintlich linksradikaler Gruppen betrifft nach wie vor die Zusammenarbeit mit parlamentarischen Strukturen und staatstragenden Organisationen. Gegen Nazis wird häufig auf massenhafte Mobilisierung auf Kosten von Inhalten gesetzt und damit die immer-gleichen Fehler aus der Vergangenheit konsequent ignoriert. Es macht keinen Sinn, 15 000 Menschen gegen einen Naziaufmarsch zu mobilisieren und sich auf einen demokratisch-gutbürgerlichen und gewaltfreien Konsens mit Parteien, Gewerkschaften und sonstigen Reformisten zu einigen, wenn dieser aufgrund mangelnder Militanz dennoch nicht verhindert werden kann. Einen Kompromiss, sich Naziaufmärschen zu ‚widersetzen‘, wobei eben jenes ‚sich setzen‘ zunehmend Einhalt gefunden hat, können wir zudem nicht nachvollziehen. Offensive Antifaschistische Politik beinhaltet für uns mehr als den heute oft angepriesenen ‚zivilen Ungehorsam‘ … Auch wenn dies in den gut bürgerlichen Zusammenhängen nicht toleriert wird.
Im Kampf gegen Nazis sind wir zudem automatisch mit Bullen und staatlicher Repression konfrontiert. Wer davon ausgeht, dass der Staat und all seine Untertanen Verbündeter im Kampf ‚gegen rechts‘ ist, für den er sich hier und da ausgibt, begeht einen fatalen Denkfehler. Spätestens das Auffliegen des ’national- sozialistischen Untergrunds‘ sollte auch dem letzten Gutgläubigen die Illusion des ernst gemeinten staatlichen Antifaschismus geraubt haben: Deutschland bezahlt rassistische Mörder und vertuscht deren Taten, lässt nicht- deutsche in seinen Arrest- Zellen verbrennen, schiebt Menschen in den Tod ab und schützt seit eh und je neonazistische Aufmärsche. Dieser Staat ist nicht nur deswegen von Grund auf abzulehnen.
Der Kapitalismus ist und bleibt die wichtigste Grundlage für das Bestehen neonazistischer Strukturen. So lange wir im bestehenden System leben werden, wird es Faschisten geben, gegen die es aktiv zu werden gilt. Konsequenter antifaschistischer Kampf beinhaltet demnach eine revolutionär antikapitalistische Grundlage. Es versteht sich von selbst, dass unsere Aktivitäten nicht im Kampf gegen Nazis aufhören dürfen. Um die ehemalige Berliner Gruppe ‚Antifascist Genclik‘ zu zitieren, der es in den 1990’er Jahren gelungen ist, in Berlin konsequente und authentische internationale Antifa- Arbeit von unten zu leisten: „Tek yol devrim!“ … Der einzige Weg ist die Revolution! Basta!
Nationalismus, Sozial- Darwinismus und faschistoides Gedankengut hören bekanntlich nicht an den deutschen Grenzen auf: weltweit existieren neofaschistische und reaktionäre, teils paramilitärische Gruppen und Parteien, gegen die es ebenfalls vorzugehen gilt. Gerade im als ‚multikulturell‘ hochgepriesenen Berlin ist dieses traurige Phänomen immer deutlicher zu beobachten, weitgehend im Schatten der deutschen Linken. In unserer direkten Nachbarschaft halten türkische Faschisten unbeachtet von unserem Widerstand Kundgebungen ab, verteilen radikale Islamisten Flyer, werden emanzipatorische Demonstrationszüge angefeindet und bespuckt. Wir dürfen uns vom alternativen Flair unserer Viertel nicht täuschen lassen: Faschisten bleiben Faschisten und müssen als jene erkennbar gemacht werden.
Ebenso gilt es natürlich, unsere Gleichgesinnten in der ganzen Welt zu erwähnen, die an etlichen anderen Orten der Erde ähnliche bis identische Kämpfe führen und mit denen wir uns zutiefst verbunden fühlen. Auch sie haben ihre Vertreter_innen in Berlin, mit denen es gemeinsame Kämpfe zu führen und zu denen es engere Verbindungen aufzubauen gilt. Hier sei besonders auf den kurdischen Befreiungskampf für eine emanzipiertes und selbstverwaltetes Gesellschafts- Modell im Nahen Osten und gegen den Terror des ‚islamischen Staates‘ hingewiesen. Internationaler Antifaschismus darf im Kampf gegen lokale Nazi- Strukturen keinesfalls vergessen werden …
Die deutsche Linke gefällt sich selbst am besten. Darin liegt eines der tiefgreifendsten Probleme unserer derzeitigen Situation. Der ungemeine Dogmatismus und Elitarismus der vermeintlich ‚linksradikalen Szene‘ Berlins ist unangemessen und steht dieser nicht zu. Er verhindert zudem jegliche Anschlussfähigkeit für Jugendliche, auch migrantische Menschen, die sich grundsätzlich für antifaschistische und/ oder antikapitalistische Kämpfe interessieren würden. Manchmal scheint es so, als hätte die deutsche Linke nicht im Geringsten das Interesse an personellem Zuwachs. Wir haben kein Interesse daran, die weiße deutsche Mittelschicht zu akquirieren, dies ist bis zum heutigen Tag ausreichend geschehen. Um eine höhere gesellschaftliche Intervention zu bewirken und den Druck der eigenen politischen Aktivitäten zu erhöhen, aber auch um in den eigenen Reihen eine Vertretung verschiedener Interessen zu erzielen, muss ein Ausbruch aus dem bestehenden Szene- Sumpf geschafft werden.
Symptomatisch auftretende Fluktuation innerhalb der bestehenden Gruppierungen aufgrund von Arbeit, Elternschaft, Hausbau oder Abschluss der Akademikerkarriere sehen wir als weiteres schwerwiegendes Problem an: Antifaschistische Politik darf keine Phase sein, die sich gut macht im Lebenslauf. Vielmehr muss sie ein Angriff auf die bestehenden Verhältnisse sein. Wir widmen uns dem antifaschistischen Kampf nicht, um in ihm ein gutes Leben zu finden, sondern um dieses zu verändern!
Wir, die wir diesen Text verfasst haben, sind unzufrieden mit der derzeitigen Situation. Wir haben uns, basierend auf der hier angerissenen Kritik, dazu entschlossen, den Rahmen der bisher bestehenden antifaschistischen Gruppierungen Berlins aufzubrechen und eine neue Gruppe zu gründen. Mit der Gründung der ‚Antifaschistischen Koordination 36‘ wollen wir einen Prozess innerhalb der linksradikalen Bewegung anstoßen. Wir wollen eine Plattform bieten für antifaschistische Vernetzung, Recherchen und Diskussionen, wollen aber zudem auf den Straßen und in den Kiezen präsent und antreffbar sein. Es wird sich zeigen, wohin die Reise geht … ein Anfang ist ein Anfang.
Seite an Seite gegen den Faschismus! Lasst uns Geschichte schreiben!
AK 36 im August 2015